Ich sterbe, wenn ich nicht schreibe
Texte zum Brigitte-Reimann-Jahr 2013 in Burg herausgegeben für die Literaturvereine Friederich-Bödecker-Kreis in Sachsen-Anhalt e.V. und Pelikan e.V. von Dorothea Iser
Maik Altenburg
>links<
Liebe Brigitte, eigentlich (so fängt man eigentlich keinen Brief an), eigentlich bin ich kein guter Briefschreiber. Bin eher briefträge. Da aber Du zu weit weg bist für ein Gespräch und ich dennoch viele Gedanken habe, angestoßen und zum Schwingen gebracht durch die Deinen, schreibe ich nun einen Brief ins Ungewisse und Ungefähre. Eine persönliche Flaschenpost.
Sagen wir: Eine Flasche Lunikoff (du weißt sicher noch, die mit der geriffelten Kugel über dem kegelförmigen Rumpf), leergesoffen an einem samtigen Samstagnachmittag bei einem Gespräch durch die Welten. Schließlich die letzten Tropfen Sprit übern Feuerzeug erhitzt und dann Zündung und pfuff! Wie er abpfeift, der Flaschenteufel. Ein Akt der Befreiung. Und dann dem von allen Geistern verlassenen Gehäuse einen neuen Sinn geben. Es neu befüllen. Mit einer einmaligen Botschaft. Denken und Fühlen in Sprache verwandeln und Taste für Taste in ein Blatt schlagen. Ein Manus, wie Du gern gesagt hast. Herantasten an die Gedanken und Empfindungen auf dieser, was für ein wunderbares Wort, Reise-Schreib-Maschine.
Weshalb aber ich schreibe? Es gibt Zusammenhänge. Die Welt ist verlinkt. Verrückt, aber verlinkt. Wer sie verändern will, sollte das wissen. Wer sich verändern will, auch. Ich habe nach >links< gesucht, links von mir und rechts von mir. Linkerhand und Rechterhand. Wollte wissen, was habe ich zu tun mit Dir? Was hätte ich mit Dir zu tun haben können? Was betrifft mich? Wo treffen wir uns? Heute ist mir so ein >link< passiert.
Ich las in der Badewanne Deine letzten Tagebucheinträge. "Alles schmeckt nach Abschied" hattest Du geschrieben. 1970. Da blieben Dir nur noch zwei Jahre und ein paar Wochen Leben. Und ich kam in jenem September zur Schule, begann zu lernen. Deutsche Schulschrift und Disziplin. Die Hände legten wir flach auf den Tisch, eine über die andere. Manchmal kam der Zeigefinger auf den Mund. Über der großen Wandtafel hingen weiße Karten mit schwarzen Zeichen. Buchstaben. Jeder war eine Tür und hinter jeder Tür begann eine Welt. Welten, von denen ich noch nichts ahnte.
Lesen, ja, lesen wurde eine Lust. Zwischen den Buchstaben bestanden Beziehungen. Zusammenhänge. Sie konnten klingen. Im Ohr, im Kopf, im Herzen. "Oma im Haus." "Mimi am Tor." "ABC - Ich kann lesen." Ich wurde süchtig. Bin es noch. Las heute, im warmen Wasser liegend, dass Du Dir vornahmst, mehr über Glück zu schreiben im nächsten Heft, und wusste beim Lesen schon: Du kamst nicht mehr dazu. So hattest Du so etwas wie ein Vermächtnis geschrieben und ich wusch die Tränen ins Badewasser, stieg aus der Wanne, trocknete mich ab und setzte mich an den Küchentisch. Dort lag die heutige Zeitung.
Sagte ich schon, dass ich lesesüchtig bin? Ich entfalte also die Zeitung und sehe was? Dein Bild. Heute vor 40 Jahren bist du gestorben. Es ist der 20. Februar 2013, und während das leicht gesalzene Badewasser in den Abfluss gurgelt, denke ich nach. Über Verbindungen, Zusammenhänge, >links<. Dass du zuerst Lehrerin wurdest und dann Dichterin, überrascht mich nicht.
"Der heutige Tag ist ein Resultat des gestrigen. Was dieser gewollt hat, müssen wir erforschen, wenn wir zu wissen wünschen, was jener will." Das war mein Thema. Im Jahr 1980. Prüfungsaufsatz Klasse 10 in Deutsch. Ich fand den Gedanken damals so einleuchtend, dass ich ihn nie wieder vergessen habe. Was aber habe ich dazu geschrieben? Aufgesetzt? Ich habe keine Ahnung. Es ging um "Die Aula", jenes Buch, dem der Autor Herrmann Kant dieses Zitat vorangestellt hatte. Ich erinnere mich an diese Sentenz jederzeit wörtlich, aber ich habe sie merkwürdigerweise verknüpft mit dem Namen Konstantin Paustowski. Das war ein russischer Autor, von dem ich nie etwas gelesen habe. In meiner Erinnerung steht dieser Name unter den beiden Sätzen, entweder im Buch von Kant oder auf dem Zettel mit den Prüfungsthemen oder an der Tafel in irgendeiner Deutschstunde. Kann das sein? Was ist da passiert am Ende meines ersten Schülerlebens? Die Worte stammen in Wahrheit von einem meiner Lieblingsdichter. Heinrich Heine hat das geschrieben. Als ich in der Prüfung über diesen Sätzen brütete, warst du schon seit sieben Jahren tot. Noch nicht ganz Klassik. Aber Klasse. Ich kannte deinen Namen. Du warst eine Türklinke.
Es gab damals in der DDR ein Jugendmagazin mit dem Titel "neues leben". Jeden Monat enthielt das Heftchen eine Doppelseite mit Zitaten, die "Türklinken" genannt wurden, weil sie im besten Fall die Türen zu neuen Denkräumen und manchmal zu neuem Leben öffneten. "Franziska Linkerhand" war oft dabei. Die Autorin hieß Brigitte Reimann und war wohl nicht alt geworden. Mehr wusste ich damals nicht und wollte auch gar nicht mehr wissen. So ein verzwickter Roman wie der über diese Franziska passte nicht in die zukunftsfrohen Geraden meiner bequemen Weltsicht. Ich nahm mit, was mir schmerzarm in den Schoß fiel, und war dankbar, dass die Macher der Zeitschrift oder wer auch immer den ziegelsteindicken Roman für mich gelesen und in Türklinken und Mauerwerk zerlegt hatten. Sie hatten, so glaubte ich, für mich bereits die Klinken von den Klinkern getrennt. Und ich bekam stumpfe Zähne, weil ich nicht selbst kauen wollte, und Beulen schlug ich mir an Wänden hinter blind geöffneten Türen mit einladend winkenden Klinken… Merkst du was? In jeder Klinke steckt ein >link<. Selbst Paustowski will mir irgendetwas sagen…
Ich bin in einer kleinen Stadt an der deutsch-polnischen Grenze aufgewachsen. Die Stadt heißt Frankfurt (Oder). 1980 sah ich DDR-Grenzsoldaten mit Maschinenpistolen das Flussufer besetzen und unsere kleine Welt war noch ein Stück kleiner geworden. Plötzlich war sie unfreundlich, die "Brücke der Freundschaft". Kurz darauf rief Jaruzelski das Kriegsrecht aus. Später traf ich einen, der zeigte mir eine Schussnarbe im Oberschenkel. "Einsatz gegen die Konterrevolution in Polen. Parteiauftrag", sagte er und, "Frag lieber nicht." Ich fragte lieber nicht und ahnte doch längst, was ich alles nicht wissen wollte.
Mein Städtchen hat eine große Hallenkirche mit farbigen Fenstern, die sehr spät heimgekehrt sind aus dem Krieg. Die Fenster erzählen Geschichten. Von Christ und Antichrist. Von Tod und Auferstehung. Am Ende von Schuld und Sühne und davon, dass eine Kriegsbeute zurückgegeben wurde, viele Jahre nach dem Krieg. Wer als Sieger so handelt, handelt groß.
Die farbigen Gläser lagen viele Jahre in Kisten, tausende Kilometer weit entfernt von ihren Rahmen im alten Backsteinmauerwerk. Das sollte gesprengt werden. Der Bürgermeister hat sich damals für die Ruine verwendet. Er war kein Christ. Aber er versuchte, das Wenige zu erhalten, was nach dem Krieg von seiner Stadt geblieben war. Vor kurzem starb der Mann und es entbrannte ein unwürdiger Streit darüber, ob man ihn ehren dürfe, den Bürgermeister aus dem Unrechtsregime, der seine Stadt geliebt hatte.
Man erzählte, dass er damals gegen den Willen der Obrigkeit gehandelt habe. Deshalb las ich nach und fand heraus, dass er wirklich eigensinnig gewesen war und dass sein Ungehorsam viele Unterstützer und Anstifter gehabt hatte. Zum Beispiel einen findigen Stadtarchitekten. Der hatte Beziehungen bis nach Berlin. Zu einem einflussreichen Professor der Architektur, mit dem Du gut bekannt warst. Er war Dein Förderer und Herausforderer Professor Herrmann Henselmann.
Die Kirchenruine wurde gesichert und blieb stehen. Später wurde sie ein Raum für Kunst und eine ganz besondere Begegnungsstätte. So konnten die farbigen Gläser mehr als 60 Jahre nach dem Krieg Stück um Stück wieder an ihre angestammten Plätze geordnet werden. Das hätte Dir bestimmt gefallen. Menschen bewahrten die Reste eines historischen Bauwerks und damit die Fassung einer gläsernen Bilderbibel. Und eines Tages kehrten die Bilder zurück.
Bei der Trauerfeier für den Bürgermeister spendeten die Gäste für die Wiederherstellung der Glocken. Wenn heute das Sonnenlicht die Bilder in den Fenstern zum Funkeln bringt, finde ich darin einen ganz persönlichen >link<…
Eine fünfzehn Jahre alte Fotografie zeigt eine Gruppe junger Menschen vor einem Bücherregal, auf einem Teppich im Arbeitszimmer einer kleinen Wohnung in der Bahnhofstraße in Frankfurt (Oder). Ein Treffen der Interessengemeinschaft junger Autoren. Wir gründeten diese Gruppe in den neunziger Jahren als einen Teil des in Frankfurt (Oder) damals noch bestehenden Deutsch-Polnischen Literaturbüros. Junge Schreibende zu ermutigen und zu unterstützen war uns wichtig. Mein Freund, der Dichter und Journalist Henry-Martin Klemt, und ich, – wir hatten bei unseren ersten Schreibversuchen Ermutigung und Unterstützung von den Älteren erfahren. Diese gute Tradition wollten wir fortsetzen. Ich las in Deinen Tagebüchern, dass Du ganz ähnlich dachtest. Dein "Zirkel schreibender Arbeiter" war ei Nest für die soeben geschlüpften poetischen Jungvögel, ein Start- und Landeplatz für Flugversuche, erste Höhenflüge und Bruchlandungen, aber auch eine kritische Werkstatt für die Arbeit an Deinen eigenen Entwürfen. Das war bei uns ganz ähnlich. Einige von unseren "poetischen Jungarbeitern" betreuen heute ihrerseits junge Schreibende in Brandenburg und so reicht dieser >link< bereits über uns hinaus … Und die Fotografie birgt noch einen >Zusatzlink<: Die Wohnung, in der sie entstanden ist, war meine Wohnung. Sie war klein, aber sehr angenehm. Zwei helle Räume, ein Bad, eine Küche mit Fenster, ein Balkon mit schmiedeeisernen Ziergittern. Ein Wohnhaus in einer durchgestalteten Straße, die nach dem Krieg entstanden war, funktional und trotzdem gemütlich. Viergeschossige Häuser mit je vier Aufgängen, jedes mit einem kleinen Vorgarten, mit Kommunikationsflächen vor dem Eingang. Jeweils an den Stirnseiten im Erdgeschoss Geschäfte. Eine Kneipe. Ein Brunnen davor. Franziska hätte sie gemocht, diese Straße.
Irgendwann wollte ich wissen, wer meine Straße entworfen hat. Es war Henselmann.
Ja, liebe Brigitte, der heutige Tag ist ein Resultat des gestrigen. Und weil das so ist, gibt es Verbindungen, die durch die Zeit reichen. Ich bin deshalb auch ziemlich sicher, dass Dich diese Flaschenpost irgendwann erreicht. Oder sie erreicht zunächst jemanden, der sie liest und neugierig wird. Der oder die dann beginnt, nach >link< zu suchen. Jenes jetzt noch unbekannte empfangende Wesen kennt Dich vielleicht überhaupt noch nicht, will aber dann wissen, was es auf sich hat, mit der Linkerhand, dem Henselmann und den Türklinken. Beginnt, Deine Bücher und Briefe zu lesen. Lernt Dich kennen und Dein Leben in jenem fernen Land zu unserer Zeit.
Kommt vielleicht dadurch bei Dir an und so auch: Bei uns. Dein Maik
dorise-verlag 2013, ISBN 978-3-942401-56-2 - Link: Ich sterbe, wenn ich nicht schreibe