Gedanken über Dein drittes Buch Aufbruch ins Diesseits
Woher kommt die Schreiberin, wohin wird sie gehen? Kommt die aus einer anderen Religion, einer anderen Kultur, vielleicht auch aus einem langen Koma? Kommt sie ins Hier und Heute oder ist sie für sich selbst angekommen, da, wo sie sein will. Ein Titel, der Fragen provoziert und neugierig macht. Eben neu-gierig.
Ich habe das Glück, die Autorin mit ihrer Schreibleidenschaft seit vielen Jahren zu kennen, so auch viele ihrer Texte. Ihren Leidensweg aus einer bipolaren Störungserkrankung habe ich aber erst mit diesem Büchlein auf den 108 Seiten verstehen gelernt.
Die Autorin hat eine wunderbare Affinität zum Wort. Sie kann gestalten, sie kann mit dem Wort spielen und jonglieren, sie kann Hintersinn unterlegen, sie kann Geschichten als Geschichten erzählen oder es einfach als Aphorismus auf den Punkt bringen. Meine Freundinnen loben vor allem ihre Lyrik. Aber sie kann, will und macht noch mehr. Wie ein roter Faden zieht sich das Schreiben als Lebenshilfe durch all ihre Texte. Sie muss schreiben, um die Seele zu retten, sie schreibt, um innere Ruhe zu finden. Die Formen dazu sind ganz verschieden und ganz unterschiedlich. Man spürt das innere Feuer, die Zerrissenheit, den Aufschrei der Seele, aber auch das Glück und die Erfüllung.
Im Zentrum ihres Schreibens steht die Familie. Der überdimensional leuchtende Vater, die böse Stiefmutter, der Kampf, die Sorge um und die Liebe zu den Söhnen und ihren Familien. Aber von großer Wichtigkeit ist auch das Thema Buch, Bücher, Bücherei, Umgang mit den Büchern, Lesen und immer wieder selbst schreiben. Nicht verwunderlich, sie ist mit Büchern, mit Schriftstellern, mit Buchhändlern aufgewachsen. Das Schreiben selbst ist ihr wichtiges Thema: Allein schreiben, in der Gruppe schreiben, Buchlesungen, Arbeit in Werkstätten, rezensieren, Meinungen äußern. Meinungen anhören. Schonungslos offen mit sich und mit den anderen. Alle Achtung, mit welcher Offenheit die Autorin bereit ist, über sich, über Intimstes, über ihre Seele zu schreiben. Das Büchlein kann erschüttern. Es ist mir unter die Haut gegangen.
Anne, wann kommt Dein viertes Buch?
Prof. Margrit Pawloff
EHHRLICHER, SCHONUNGSLOSER REPORT
Annegret Winkel, die Hallenserin, taucht seit längerem regelmäßig im Wortspiegel auf. Und nun liegt ihr Buch „Aufbruch ins Diesseits“ vor, ihre dritte Buchveröffentlichung. Ich muss gestehen, dass mir auf Anhieb kein Buch einfällt, in dem über weite Strecken so offen und nicht beschwichtigend Mitteilung vom eigenen alles andere als geradlinigen Leben gemacht wird. Ein Leben, das Schlimmes bereithielt: Ein Elternhaus, in dem für das Kind allein die Liebe des Vaters präsent war. Keine Mutterliebe, nur ein Elternteil gab dem Kleinkind, der Heranwachsenden Wärme. Dann der Leidensweg... Medikamentenmissbrauch, Schlafstörungen, Suizidgefahr, manische Depressionen. Und immer wieder, immer wieder Krankenhausaufenthalte. Dieser Werdegang erheischt des Lesers Interesse, sein Mitgefühl, seine Aufmerksamkeit. Das ist nicht etwa eine Art voyeuristisches Über-den-Zaun-schielen. Nein, der Autorin gebührt Hochachtung, dass sie, die so vieles preis gibt, nicht bleibend gestrauchelt ist, sondern es vermochte, sich aus dem Sumpf zu ziehen. Manche Beiträge zeugen sogar von unverwüstlichem Humor, bringen eine optimistische Haltung zum Klingen. Ob die Autorin, die sich nach Verständnis sehnt, auch die Kraft aufbringt, bei manchen verhärteten Dingen gegenüber anderen selbst Einsicht, Abwägung zu üben? Das ist wohl gerade bei ihrer Vita unheimlich schwer.
Nun umfasst Annegret Winkels Buch über einhundert Seiten, und sie hat sich redlich bemüht, ein buntes Sammelsurium zu präsentieren, wobei natürlich die Frage erlaubt sei, ob der eine oder andere Beitrag überhaupt ins Buch passt. Doch das Treffen der Auswahl ist Sache der Autorin.
Das Buch vereint Lyrik und Prosa, und bei den Gedichten gibt es einprägsame, poetische Wort- und Versschöpfungen. “Melodie des Tages“, „Nebel des Vergessens“, „verrissen, gesplittert“, „nieselfeucht“ und „betörend taumelnd“.
Insgesamt: Ein lebensnahes Buch, das nachvollziehbar macht, dass dem Schreiben, dem schriftlichen Fixieren und Ordnen von Gedanken und der Musik beim Prozess der Gesundung riesige Bedeutung zukommt. Diese Kraft, geboren aus dem Lesen, Schreiben und Hören stützt, hilft, baut auf. Ein guter Lebensbegleiter.
Peter Drescher, Schriftsteller
2013 war Annegret Winkel „Angekommen im Nirgendwo“. Der Aufenthalt dort war nicht von langer Dauer. Bereits ein Jahr später können wir ihren „Aufbruch ins Diesseits“ in den Händen halten.
Annegret Winkel öffnet sich. Sie lässt den Leser in die Tiefe ihres Innersten blicken. Mit kleinen Prosastücken, längeren Berichten, Gedichten, Aphorismen breitet sie ihr Leben aus. Da ist das 13-jährige Mädchen auf dem Apfelbaum, der Verlust der Mutter, der Kampf mit der Stiefmutter, der zweiten Frau ihres Vaters, für die sie durchgängig den Terminus „die Frau, von der ich adoptiert wurde“ gefunden hat, die Liebe zum Vater, der ihr die Literatur nahegebracht hat und dem sie die Bekanntschaft mit vielen Schriftstellern verdankt. Da sind die Söhne, die im Spannungsfeld mit der Stiefmutter zu ihr zurück finden, da ist die Sehnsucht nach Nähe, nach Berührung, nach Liebe. Die Autorin arrangiert sich mit ihrer Erkrankung und findet schließlich Erfüllung im Schreiben. Ein Bekenntnis der Annegret Winkel zu sich selbst.
Man kann das Buch immer wieder in die Hand nehmen, hier und da aufschlagen, einen kleinen Abschnitt lesen; man findet immer wieder Annegret Winkel.
Oder man betrachtet das eine oder andere der schwarz-weißen Bilder, die Annegret Winkel aus dem Fundus des Fotografen herausgefischt hat, und findet Ruhe.
Rolf Winkler
22.11.2014
Das Buch erschien unter ISBN 978-3-942401-71-5