"Maik Altenburg nimmt seine Form aus der Natur. Rhythmus und Welle. Sanftmutig (ohne Umlaut). Ihr bleibt er auch in seinen Gedichten, Miniaturen, Liedtexten nah. Natur gibt alles. Eines ins Andere, eines aus dem Anderen heraus. Ins Offene, Freund. Doch die Ironie, feingesponnen manchmal, flegelhaft freundlich zuweilen, trägt er selbst in den Text."
…
Das sture Frankfurt Oder, Geburtsstadt des Autors wie des lebensverdrossenen Kleist, "bleibt kühl und wo es wärmt ist Mief". Aber die Orte reden und reden. Es sind Geständnisse, die Altenburg dieser Stadt, dieser grenzüberfließenden Landschaft zuschreibt. Fangen, werfen, fangen. Wispern, raunzen. Jedenfalls nicht fortgehen können, außer von einer Zeit in die andere und manchmal an dieses oder jenes Meer.
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"Es gibt hier weit und breit keinen anderen Lyriker, der sich Land und Leuten so anvertraut hat, die Landschaft auf solche Weise besingt, der so durchdrungen ist vom Fluss, der schweigt, streichelt und heilt, und von der Stadt, die ihm Zuhause ist seit seinem ersten Tag. Der spürt, wie ihn "die erde ins licht" dreht am Morgen. Der das beschreiben kann. Manchmal möchte ich beim Hören von Maik Altenburgs Gedichten gern auf der Erde liegen, Rücken an Rücken mit ihr."
Henry-Martin Klemt
Textauszug:
Der Himmel über Frankfurt (Oder)
Auf meinem Weg zum Kino
umgehe ich Hundehaufen,
stinkt mir der Rinnstein,
stelle ich mich in die Warteschlange,
grüße mechanisch Bekannte,
nenne die Stadt ein Provinznest,
kaufe die Eintrittskarte
und lehne mich schließlich zurück.
Dass ich das alles kann:
lieben, hassen, singen, tanzen,
riechen und schmecken,
ein Essen erleben, ein Buch.
Dass ich das alles kann, beweist auch,
dass ich kein Engel bin.
Mein Platz ist nicht auf der Siegessäule,
nicht an der Dachkante des Oderturms.
Der Himmel über Frankfurt
mag warten. Im Staub dieser Stadt
hinterlasse ich meine Spuren.
Kreise, Ellipsen und Pentagramme,
Herzen in Schnee gepinkelt und Sterne.
Ein unentwirrbares Schrittgespinst.
Versuchen Sie das mal zu deuten,
meine Damen und Herren
von der psycho-logischen Fakultät.
Ein seinsmographisches Protokoll,
eine Fußschrift, als sei
eine Krähe über das Blatt gelaufen
und wiedergekehrt, Jahr um Jahr.
Bleibt noch zu erwähnen,
dass diese Spur auch in Kneipen führt
und immer noch wieder hinaus.
Auch über die Brücke und über den Fluss
könnten sie mich verfolgen.
Fremd ist mir die Sprache
der Menschen am anderen Ufer,
doch atme ich freier dort und sehe
Frankfurt mit anderem Blick.
Erst dann kann ich heimkehren,
in Häuser, in denen ich klein war
und Häuser, in denen ich wuchs.
Freunde und Feinde fand ich und
finde ich hier
und überschaubar bleibt,
was jene von diesen scheidet,
in meinem Dorf an der Oder.
Hier kam ich zur Welt
und hier bin ich. Ich bin
kein Engel.
Das sagte ich schon.
Als ich das Kino verlasse,
hat es geregnet und Frankfurt
umgarnt mich
mit achtunddreissig Gerüchen.
Einer davon ist Hundescheiße,
die klebt mir am Schuh.
Na dann,
Glück auf, alte Hansedame!
Wir werden einander nicht los.
Wie ich zu meinem Hut kam
Es war eine nasskalte Herbstnacht. Wir hatten nach dem Ende eines Konzertes noch lange zusammengesessen. Gegen Zwei ging die Tür des Oderspeichers hinter mir zu und ich stolperte gut gelaunt in den Nebel. Ich nahm den Weg an der Oder entlang. Ungefähr auf Höhe des Packhofes stand ein Typ am Fluss, rauchte und sah auf das Wasser. Er trug einen langen Trenchcoat und einen Cowboyhut und lehnte sich mit Brust und Oberarmen auf das Geländer. Meine Schritte knirschten auf der Oderpromenade. Der Mann drehte sich kurz nach mir um. Das Profil kam mir bekannt vor. Die Nase, die hohe Stirn, die Locken.
Ich quatschte ihn an: "Heh Mister Tambourine Man, hast du mal Feuer? Eh du siehst ja aus wie Bob Dylan”.
"Kunststück”, sagte der Mann und warf seine Kippe in den Fluss. "Ich bins.”
Ich hielt mich am kalten Edelstahlgeländer der Odermauer fest. "Das, das ist jetzt nicht wahr”, stammelte ich. "Doch”, erwiderte er und griff in die Tasche. Ein Sturmfeuerzeug klickte. Im flackernden Licht sah ich sein Gesicht. Die tiefen Furchen zu beiden Seiten der Nase, die Falten des Unmuts über der Nasenwurzel, einen sehr aufmerksamen Blick unter der Hutkrempe. Er musterte mich, schätzte mich aber offenbar als ungefährlich ein, denn er löschte das Feuerzeug mit einer Handbewegung und sagte, "shit happened!” Mir wurde schlecht. Trotzdem fragte ich:
"Wie kommen Sie denn hier her, Mister Dylan?” "Oh”, murmelte er, "das hier ist doch Frankfurt, oder?” "Oh ja”, erwiderte ich, "es ist Frankfurt (Oder)”. "Yeah, yeah”, sagte er, "shit, es ist Frankfurt (Oder)”. "Da drüben ist Polen, oder?” "Ja”, sagte ich, da drüben ist dann Polen.” "Eine gottverdammte nasskalte Herbstnacht an der polnischen Grenze. Wer soll wissen, dass ihr fuckin‘ Germans zwei Frankfurts habt.” "Sie wollten nach Frankfurt am Main?”, fragte ich. "Oh yeah, yeah, yeah!”, knurrte er. Mir entfuhr ein zünftiges "Ach du Scheiße”. "Und Ihre Bodyguards?”
"Sind in Berlin. Hab mich aus dem Hotel gebeamt und wollte eine alte Freundin in Frankfurt besuchen. Eine Stunde Bahnfahrt ist kein Hit, dachte ich. Im Zug klauten sie mir die Tasche. No more money, no more Handy. Und dann dieses Frankfurt. Fuckin Frankfurt (Oder). LandsEnd. Der nächste Zug zurück nach Berlin geht erst nach 4 Uhr. Oh Mother.”
”Ich verstehe”, sagte ich, griff in die Tasche und reichte ihm meinen Flachmann. "Whisky!”. "Oh”, brummte er, "danke, sehr aufmerksam.” Er nahm einen kräftigen Schluck. Ich fragte weiter: "Warum haben Sie sich nicht bei der Polizei gemeldet?”
"Der Cop, den ich im Bahnhof ansprach, meinte, wenn ich Bob Dylan sei, sei er Udo Lindenberg und er könne sich alleine verscheißern. Dann zeigte er mir eine Telefonzelle und erklärte: "Bitte sehr, Mister Dylan, Sir, wir haben hier extra ein Telefonhäuschen für Sie hingestellt. Nachdem ich dann gesehen hatte, dass vorläufig kein Zug zurückfuhr, bin ich die Straße runter, downtown. So kam ich an den Fluss. Gestrandet, am äußersten Rand von Germany.”
"Heh, was für eine poetische Situation”, sagte ich.
"Wenn das kein guter Song wird. Übrigens liebe ich Ihr letztes Album sehr, besonders den »working mans blues«.”
"Kopiert oder gekauft?”, fragte er.
"Es gibt Alben, die ich kaufe", antwortete ich. "Ihres gehört dazu.” "Gut”, brummte er. "Tja, also wenn Sie den Song gleich schreiben wollen, ich wohne nicht weit vom Bahnhof, eine Klampfe ist da, ein Keyboard, ein Computer. Und eine Notration Whisky hab ich auch noch im Schrank.” Er ließ das Feuerzeug noch einmal aufflammen, leuchtete mir ins Gesicht, sah mich lange an und sagte dann: "O.K., gehen wir." Wir setzten uns in Bewegung, der große alte Mann und ich. Als wir an der Kirche vorbeikamen, dachte ich: "Vielleicht sollte ich ihm das ‚fuckin Frankfurt' etwas näherbringen”.
"Das große dunkle Gebäude hier ist übrigens Sankt Marien. Die Kirche hat bemalte Fenster aus dem Mittelalter. Die Leute kommen aus aller Welt, um sie zu sehen.” "Ja”, antwortete er, "die Leute gehen oft weit, um aus dem Fenster zu sehen.”
Ich lief weiter neben ihm her, neben Bob Dylan her, in einer Herbstnacht des Jahres 2006 in meiner Heimatstadt Frankfurt (Oder). Das heißt, genau genommen lief ja er neben mir her. Ich kannte den Weg. Bob Dylan folgte mir. Das würde mir keiner glauben. So viel war klar. "Ich kenne einen in Scarborough, der hat alle ihre Alben”, sagte ich, um die Unterhaltung wieder in Gang zu bringen.
"Jaja”, brummte er, "die Engländer sammeln alles.”
"Aber dem tun sie Unrecht”, entgegnete ich, "Craig ist ein alter versoffener Mathematikprofessor, genauso alt wie Sie, der Ihnen quer durch Europa folgt, wann immer Sie irgendwo live auftreten. Er war zu Ihrer Geburtstagstour in Rom, er hat Sie in Paris gesehen, in Amsterdam, überall. Er hat uns abends in seiner Stube ihre »Chimes of Freedom« aufgelegt und dabei geheult”, erzählte ich. Und der alte Mann neben mir sagte: "Ja, mir ist auch manchmal zum Heulen....”
Immer noch tappten wir durch die Dunkelheit.
"Darf ich Ihnen mal eine kritische Frage stellen?” "Klar”, sagte er. "Also”, begann ich, "im September 1987, da waren Sie in Ost-Berlin, im Treptower Park und spielten mit Tom Petty”. "Schon möglich”, nuschelte er. "Ja”, sagte ich, "ich weiß es genau. Sie haben damals einen leidenschaftslosen, unterkühlten Auftritt abgeliefert. Es war eine der ganz wenigen Gelegenheiten, jemanden wie Sie in der DDR on stage zu haben. Und dann standen Sie da vorn und spielten den Gig runter.”"Heh”, knurrte er, "Sie haben die Show gekriegt, oder? Ich bin da, aber ich gehöre euch nicht.” Lassen Sie sich auch deshalb nicht mehr fotografieren?” "Ich verwandele mich”, murmelte er, "mein ganzes Leben ist Verwandlung. Bilder sind unwichtig, sie stimmen schon morgen nicht mehr. Was bleibt, sind die Worte, die Poesie, die Songs. Die könnt ihr haben, aber nicht den Mann." Wir erreichten die Kreuzung am Oderturm und vor uns lag eine riesige Pfütze. Von links näherte sich ein pinkfarbener Trabant mit hoher Geschwindigkeit. Ich schrie "Heh! Bob! Zurück!”, aber es war zu spät. Der Trabbi schnitt durch die Pfütze und eine Welle aus Dreck und Regenwasser überschüttete uns. Das Wasser spritzte so hoch, dass mir die Mütze vom Kopf flog. Ich sah zu Bob und konnte nicht glauben, was ich sah: Der große alte Mann begann sich aufzulösen. So wie das Wasser von ihm abfloss, wurden die Konturen unscharf, der Mann verschwamm, löste sich auf, verging. Ich stand, allein, tropfnass und fassungslos am Platz der Republik in Frankfurt (Oder). Von irgendwo hörte ich noch einmal seine kratzende Stimme: "Die Poesie bleibt, Mann, das sind die wahren Bilder....”
Dann war es still.
In der Pfütze vor mir schwamm sein Hut.
Ein schwarzer Cowboyhut.
Den habe ich dann mitgenommen.