Bravourös in die Suppe gespuckt
Rudis Ohrfeige war kräftig gesetzt und sehr berechtigt
Bei allen Turbulenzen und dem Reisefieber hatte ich jene sorgenvollen Gedanken verdrängt, wie es mit meiner Keramik-Minimanufaktur nun weitergehen sollte. Mir war keineswegs entgangen, dass sich die Billigprodukte aus Italien beim Discounter bis unter deren Decke stapelten und sich augenblicklich keine Sau mehr für meine bunten Sparschweinchen interessierte. Die schlummerten in den Stapeln von Kisten und waren über Nacht zu bleiernen Ladenhütern geworden. Und doch, ich wollte mich nicht geschlagen geben. In einer schlaflosen Nacht kam mir endlich die zündende Idee, die allein würde mich retten. Gutbetuchten Narzissten müsste es doch ein Verlangen sein, von sich eine Portrait-Büste aus edelstem Porzellan zu besitzen. Gäste, Verwandte und die Nachbarn sowieso würden vor Neid zerplatzen, wenn die Persönlichkeit dann zweifach bewundert werden müsste. Visionär sah ich jene Marktlücke vor mir und wollte sie gewinnbringend so rasch wie möglich schließen. So machte ich mich auf gleich einem Wanderburschen und studierte bei Maskenbildnern am Thalia Theater in Hamburg die Kunst des Abformens. Bald war ich bereit für den ersten Versuch am lebenden Objekt. Bei jener Premierenveranstaltung hätte ich um ein Haar meine Nachbarin vom Leben in den Tod befördert. Und das kam so:
Rudi wohnte in meiner Straße drei Häuser weiter und spielte im Hotel nebenan Mädchen für alles. Sie putzte, kaufte ein, sortierte Post - und gab unerbetene Ratschläge. Rudi hieß eigentlich nicht Rudi, sondern Hella Rudolph. Weil aber ihre Mischlingsputzigkeit aus Dackel und Jack-Russel-Terrier Rudi hieß und sich Hund und Halterin wie so oft zum Verwechseln ähnlich sahen, hießen für mich beide Rudi. Abgöttisch liebte sie ihren kleinen Hund, trug ihn mit und ohne Körbchen hin und her und ohne Unterlass gab es dabei die feinsten Häppchen, die ausschließlich von Mund zu Mund gereicht und übergeben wurden. Aus lauter Dankbarkeit bekam sie dann jedes Mal vom dicken Vierbeiner erneut einen feuchten Zungenkuss. Die beiden Rudis besuchten mich regelmäßig in meinem Studio. Die zweibeinige Rudi liebelte dann pausenlos ihr Schätzchen ab und genauso pausenlos redete sie auf mich ein. Ich erfuhr Neues über aktuelle Wettertendenzen, Nachbarschaftsgefechte, nicht vorhandene Warenangebote und bekam systemkritische Politinformationen frei Haus geliefert. Ihr permanenter Redeschwall prasselte auf mich nieder wie ein Dauerregen.
Das ging nun schon seit Jahren so, nichts hatte sich geändert, nur die Themen waren andere geworden. Wieder saß Rudi plappernd vor mir auf dem Stuhl, redete nun nicht mehr über die Mangelwirtschaft in der HO, sondern ratterte den Kanon der Aldi-Sonderangebote herunter. Heute kam sie mir gerade recht. Ich schmeichelte ihr und bemerkte wie nebenbei, dass sie ein spannendes Profil besäße. Fast römisch-klassisch und allein die fein geformte Nase… Ob sie das denn nicht wisse und eine künstlerische Nachbildung erschiene doch geradezu unausweichlich. Und wie schön wäre es, gäbe es ihr Bildnis aus feinstem Porzellan, zum Beispiel als Geschenk für ihren Mann, der wochenlang fern von ihr das Geld im Westen verdienen muss. Mit diesem Angebinde und Ebenbild würden die Zeiten der langen Trennung doch so für ihn viel leichter zu ertragen sein. Und morgen schon könnten wir beginnen, ein solches Meisterwerk gemeinsam zu erschaffen. Mit weihevollem Gestus und sonor gestellter Stimme, fragte ich Rudi, ob sie Lust hätte, mein erstes Modell zu sein. Als Lohn winke dann ihr Gratis-Konterfei. Sie schwieg. Das hatten wir noch nie. Ihre Augen wurden übergroß und ihr Profil noch interessanterer. Endlich stammelte sie, dass das eine ganz wunderbarfabelhafte Idee sei, sie sich geehrt fühle und nur allzu gern Muse und Modell in einem wäre. Na bitte, geht doch!
Am nächsten Tag hatte ich unseren Versuchsballon sorgsam vorbereitet und alles fein ordentlich zurechtgelegt. Silikon, Creme, Gips, Binden, Tücher, Gerätschaft, Handschuhe und Schürze. Tadellos! In meiner Keramikwerkstatt sah es aus wie in der Unfallchirurgie. Als Rudi mit Rudi erschien, war sie ziemlich aufgeregt und darauf bedacht, ja nichts falsch zu machen. Das Einzige, was sie tun musste, war radikal zu schweigen und in Ruhe zu verharren. Ob sie das wohl schaffen würde? Meine Probandin nahm vorsichtig Platz, lag nun halbschräg und eisern schweigend vor mir. Das Gesäß ruhte auf dem alten wurmstichigen Holzhocker, der Kopf nach hinten gelehnt auf dem Tisch. Zuerst raffte ich mit einem Gummiband ihre Haare, dann verteilte ich sorgsam auf dem starren Antlitz fette Creme. Und schon verschwand das unsichere Rudi-Lächeln unter klebriger Silikon-Pampe. Beide Rudis lagen regungslos. Als Nächstes trug ich flott eine weitere dicke Silikonschicht auf und wartete, bis die Masse leicht erstarrte. Sacht schob ich meinem Modell ein Plastikröhrchen in jedes Nasenloch, damit es seine Lungen auch während der Prozedur anständig belüften konnte. Ihr Atmen klang nun ein bisschen flötig, aber Rudi eins und zwei lagen überaus entspannt. Nun konnte die nächste Beschichtung kommen. Das wiederholte sich mehrfach, bis von Rudis gepriesenem Profil nichts mehr zu sehen war. Sie atmete ruhig. Der kurzbeinige Mischlingsrüde atmete unruhig, hatte den Kopf auf seine zierlichen Pfötchen gelegt und schaute unsicher-scheu zu seinem Frauchen, das sich in einem unheimlichen Verwandlungsprozess befand. Weil ihre Kleidung keinen Schaden nehmen sollte, hatte ich mein Opfer in einen Kokon aus verschlissenen Tüchern, alten Bettlaken und meiner fleckigen Bockschürze eingehüllt. Sie lag da, wie eine verpuppte Schmetterlingsraupe im Winterschlaf. Höchste Zeit, den Modellgips anzurühren. Die wabbelige Silikonmaske brauchte Stabilität, wenn sie später als Hohlform dienen sollte. Weil ich so echauffiert herumhantierte, entglitt mir die Gipsbrei-Ladung, schwappte auf den Tisch und ergoss sich über die dort abgelegten, mittellangen Rudi-Haare. Oh je, verdammt! Jetzt durfte ich nicht zimperlich sein, sonst stand der krönende Erfolg des Projektes womöglich auf dem Spiel. Ich sagte kein Wort und fuhr in meinem Tun so eifrig fort, wie der Alchimist beim Golderfinden. Aufs Neue rührte ich eine gehörige Portion Gips mit Wasser an und verteilte sie auf den schweigenden Silikonhuckel. Das ging meisterlich von der Hand und ohne weitere Zwischenfälle. Nun musste ich bloß noch ein bisschen warten, bis sich der Pamps verfestigt hatte. Derweil begab ich mich kurz ins Nachbarzimmer, um weitern Materialnachschub zu holen. Ich gab Bescheid und streichelte im Vorbeigehen zur Beruhigung und Ermutigung gütig Rudis Hand. Zustimmend ruckelte die Mumie. Sitzt, wackelt und hat Luft, scherzte ich. Von wegen! Als ich mein Zeug gerade beieinander hatte, vernahm ich ein mächtiges Rumoren. Der Hund kläffte hysterisch, fast übertönte er das Donnern, Rumpeln und Poltern von nebenan. Ich ließ alles stehen und liegen und stürzte ins Versuchslabor. Dort bot sich mir ein burleskes Bild: Wie wahnsinnig strampelte Rudi mit den Beinen und die Arme wollten sich aus der Zwangsjacke befreien. Der Vierbeiner belferte im allerhöchsten Diskant und versuchte in die häckselnden Beine seiner geliebten Herrin zu beißen. Ich verstand den Aufruhr nicht und sah das Endergebnis in Gefahr. Bis ich begriff, dass die Eingepackte dem Erstickungstode nahe war. Wahrscheinlich wegen meiner Abwesenheit in Unruhe geraten, hatte sie sich bewegt und dadurch war in ihre Nasen-Atmungsrohre etwas vom teigigen Gips geraten. Der wiederum hat die Eigenschaft, sich beim Härten auszudehnen und nun war es vorbei mit lebensspendender Luftzufuhr. Ich riss sofort die Röhrchen aus der Verankerung und im selben Augenblicke sog Rudi derart Atemluft, dass es ein Geräusch gab, als zöge der Saugbagger am Grunde der Baugrube Nebenluft. Das Musterbild hatte aufgehört zu Strampeln, das Hündchen mit Kläffen. Rudi schnaufte schweigend unter ihrer weißen Maske, bebte und kam nicht frei, denn ihre Haarpracht war vom verschütteten Gipsbrei wie angeschraubt am Tische. Haare, Holz und Mörtel waren längst eine unlösbare Verbindung eingegangen. Ich griff zum Hammer und zertrümmerte mit einem gezielten Hieb die zu Stein gewordene Halterung. Die Gefangene schnellte nach oben, riss sich den Lumpenpanzer vom Leib und vom Gesicht die Maske. Die schleuderte sie in eine Ecke, in der sie krachend zerbrach und liegen blieb. Noch immer sagte Rudi kein Wort, stand nur regungslos vor mir und starrte mich mit hochrotem Hochglanzgesicht entgeistert an. Bloß die unzähligen Gipsklumpen in ihren Haaren wackelten vergnügt hin und her, als wollten sie ihre Trägerin verhöhnen. Kurz zuckte Rudi wie das wiedererweckte Dornröschen, dann holte sie aus und haute mir eine runter, dass es schepperte, klemmte sich ihren Liebling unter den Arm und stürmte schnurstracks nach draußen. Die Ohrfeige war kräftig gesetzt und sehr berechtigt! Erst auf der wackeligen Holztreppe vor der Tür fand sie die Sprache wieder. Beim Hinabklettern hörte ich sie fluchen und im Frauchen-zu-Hund-Gespräch war sogar von Polizei die Rede.
Schon am übernächsten Morgen saßen die beiden Rudis wieder bei mir im Keramik-Büdchen, aufgeräumt und wohlgelaunt. Dennoch habe ich von weiteren Versuchen dieser Art Abstand genommen und mein Studio für immer zugeschlossen. Aber bange war mir deshalb noch lange nicht, schließlich stand jetzt die Welt mit allen Möglichkeiten und den vielen Türen offen. Das Leben war doch nun so schön bunt geworden und ich hatte doch immer so schöne bunte Einfälle. Die allerdings schienen gerade verhindert zu sein, denn sie fehlten ganz und gar.
dorise-Verlag 2014, ISBN 978-3-942401-72-2 - Link: Bravourös in die Suppe gespuckt